Wenn ich singe, sind meine härtesten, unbestechlichsten Kritiker Lily und Lucy – meine beiden Katzen.
Egal was sie gerade tun – schlafen, sich putzen, spielen – sobald ich mit dem Üben anfange, flüchten sie blitzartig und mit hochstehendem Fell aus dem Zimmer.
Zum Singen im Chor bin ich erst als Erwachsene gekommen. Dabei wollte ich schon immer singen.
Schon als Kind. Wusste aber nicht wie. Ich bin in keiner musikalischen Familie aufgewachsen, wo man das so tagein, tagaus mit der Muttermilch aufnimmt.
Einmal hätte ich fast Klavierspielen gelernt. Hurra! Aber dann wurde es doch die verfluchte Flöte.
Ich habe sie so gehasst, dass ich alles sofort wieder vergaß, sobald die Stunde vorbei war.
Unser Schulchor war ein Witz, alle sangen absichtlich falsch, weil sie zu cool für Volkslieder waren.
Lange habe ich geraucht. Und dachte immer, fürs Singen müsste ich das Rauchen aufgeben. Außerdem konnte ich keine Noten lesen. Wer würde mich schon singen lassen?
Na gut, zwei Typen gab es.
Die coolen Typen in der Schule und ich
Echt liebe Kerle, der eine spielte Gitarre, der andere Kontrabass, und beide liebten Free Jazz. Sie suchten eine Sängerin. Okayyy, sagte ich, ich kann aber keine Noten lesen.
Brauchst du nicht, sagten sie.
Und welchen Text soll ich singen?
Es gibt keinen Text, sagten sie.
Aber ich muss doch vorher üben!
Sie winkten ab: Brauchst du nicht.
Dann ging es in den Proberaum und sie legten los.
Bald waren sie in ihren jeweiligen Universen verschwunden, die sich ab und zu spielerisch wieder begegneten. Ich stand da in der Mitte mit dem Mikro in der Hand und wusste nicht, was sie von mir wollten.
Bis ich begriff: ich sollte improvisieren.
Sie glaubten, ich könnte das.
Sie hielten mich für cool.
Unter ihren aufmunternden Blicken summte ich was ins Mikro, versuchte ihre Melodie aufzugreifen. Sie entschlüpfte. Flutsch.
Ich konnte keine Kraft in meine Stimme legen. Ich konnte sie nirgendwo hinführen – wohin denn? Ich hatte keine Basis, keine Übung, keine Ahnung, keine Vorbilder, Ella Fitzgerald fing ich damals erst an zu entdecken.
Ich murmelte orientierungslos vor mich hin, während mir der kalte Schweiß ausbrach.
I was lost.
Die beiden Jungs spielten zwei Stunden weiter, als wär nix. In ihrer Welt konnten sie sich nicht vorstellen, dass es jemanden ohne jede musikalische Vorbildung oder Talent gab. Gab es aber. Mich.
Ich hätte das lieber nicht über mich erfahren und das auch noch vor ihnen.
Danach haben wir nie wieder über diesen Tag gesprochen. Wir blieben Freunde, das schon. Obwohl in ihren Blicken seitdem eine gewisse Nüchternheit lag.
Ich legte meine Sehnsucht auf Eis.
Wie der Gospel mich nicht zum Gott brachte
Viele Jahre später, weit weg in einer anderen Stadt, entdeckte ich Gospel.
Und da brauchte ich keine Noten mehr. Ich habe in kleinen und großen Gospelchören gesungen, auf Weihnachtsmärkten, in Biergärten, in Kirchen.
Ich hatte immer ein leicht schlechtes Gewissen dabei, weil ich ja eigentlich nicht an Gott glaubte, während ich ihn mit flammender Begeisterung pries.
Aber Hauptsache, ich konnte singen!
Nebenbei nahm ich Gesangsunterricht. Auch da lernte ich keine Noten lesen (dafür wäre Klavierspielen in der Kindheit hilfreich gewesen, erfuhr ich), aber ich lernte, dass die Stimmbänder sich wie Muskeln trainieren lassen.
Wer hätte das gedacht, dass man beim Karaoke schwierige Lieder nicht einfach eine Oktave tiefer singen muss, wie meine Schwester das jahrelang gemacht hat, sondern sich viele Höhen tatsächlich antrainieren kann!
Eine neue Welt tat sich auf. Begeistert übte ich alle möglichen Songs (darunter auch Ella).
Das war schon hilfreiches Feedback.
Von Individualistin zum Teil von etwas Größerem
Auch im Chor arbeitet man erst seine Individualität aus.
Doch dann legt man sie ab.
Damit erschafft man etwas, das größer ist als man selbst. Und man spürt es, während man es tut, denn wenn man es richtig macht, dann summt dein Körper mit von Kopf bis Fuß und mit Haut und Haar, dann schwingen alle Sänger in Resonanz, und der Sound entwickelt eine unbekannte Wucht, die tief und unendlich weit trägt.
Da will man hin.
Der Weg ist steinig. Man muss sich den Weg richtig erkämpfen.
Denn der Sopran, der links neben dir steht, geht einen anderen Weg und der Tenor hinter dir auch. Sie alle singen völlig andere Noten, zu anderen Zeiten und das muss dir völlig egal sein. Ich bin ein eher harmoniesüchtiger Mensch und muss genau das Gegenteil machen, damit es gut wird – dagegen singen.
Bevor ich im Chor sang, dachte ich, bei einem vierstimmigen Stück singen wohl alle die gleiche Melodie, nur in verschiedenen Höhen. Das war dann doch eine Überraschung. Ich sag ja, null musikalische Vorbildung.
Heute stelle ich mir den Chorleiter wie einen Dirigenten und den Chor wie ein Orchester vor, und jede Stimme ist ein anderes Instrument und muss daher auch zu anderen Zeiten einsetzen und trägt mal was zum Rhythmus, mal was zur Melodie, mal was zur Harmonie oder zur Lautstärke bei.
Und ich weiß, alles, was ich wissen muss, sehe ich, wenn ich den Chorleiter anblicke. Er zeigt mir den Weg.
Und jeder einzelne Weg begann als eine Reihe von Zumutungen a la „Das schaffe ich nie!“
Manche Schritte klingen anfangs so absurd, dass man nur noch lachen muss. „Ist das ein Scherz?“
Nein.
Und dann übt man. Und übt. Und dann kommt man wieder zusammen und auf einmal kann man das, was kurz zuvor unmöglich schien.
Auf einmal klingt es. Größer als man selbst.
Uncool ist der neue Cool
Das ist ein Erlebnis, an das man sich nicht gewöhnt, das sich immer wieder neu anfühlt.
Jedes Mal kann ich es erst nicht glauben. Inzwischen weiß ich zwar aus Erfahrung, dass es machbar ist, und so mache ich es auf Verdacht halt trotzdem. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich es glaube.
Und dann erfahre ich, dass das, was ich für unmöglich hielt, möglich ist.
Und das immer wieder neu. Jedes Mal unter Schmerzen und mit Freude. Kann ich nicht mal cool bleiben?
Werde ich es je lernen? Wahrscheinlich nicht.
Aber muss ich denn?
Hauptsache, ich kann singen!