Nur über meine Philosophen-Leiche
Unser Geschenk zu Halloween: Die älteste Spukhausgeschichte der Welt, neu erzählt
Die früheste aufgezeichnete Spukhausgeschichte stammt aus dem antiken Griechenland und handelt vom griechischen Philosophen Athenodorus Kananites. Wir kennen sie, weil der römische Magistrat Plinius der Jüngere sie (als Tatsache) in einem noch erhaltenen Brief festgehalten hat.
Das ist unsere Version seiner Geschichte.
Um die Jahrtausendwende, als Athen ein Juwel des Römischen Reiches war und die halbe Welt ein Stoiker sein wollte, lebten dort zwei Philosophen, die viele Jahre lang beste Freunde waren, bis sie zu Erzfeinden wurden.
Athenodorus und Strabon begannen als Schüler und Mentor. Es gab eine Zeit, in der man sie ausschließlich zusammen sah, in Diskussionen vertieft, bei der Planung eines neuen Projekts oder bei der Kritik der neuesten Schriften des anderen.
Dann, von einem Tag auf den anderen, waren sie plötzlich die erbittertsten Rivalen.
Ganz Athen spekulierte darüber, was passiert war. Einige sagten, es ginge um Geld – denn während Strabon reich war, konnte Athenodorus seinen Ruhm nie zu Geld machen. Sein Verleger war der Einzige, der mit seinen Büchern Geld verdiente, und Athenodorus war so bestrebt, seine Gedanken mit der Welt zu teilen, dass er im Allgemeinen vergaß, die Besucher seiner Vorträge um Bezahlung zu bitten. Daher war er ständig verschuldet und verließ sich oft auf die Großzügigkeit seiner Freunde, die ihm einen Schlafplatz zur Verfügung stellten.
Andere glaubten, dass eine Frau im Spiel gewesen sein könnte, und tatsächlich war Strabon ein Mann von Welt und Charmeur, während der jüngere Athenodorus in weiblicher Gesellschaft unbeholfen war und oft die falschen Dinge sagte.
Vielleicht war es berufliche Rivalität, denn viele Athener flüsterten: „Zwei Hähne in einem Korb ist ein Hahn zu viel.“
Jahrzehntelang widmeten die beiden geehrten und respektierten Literaten ihr Leben und ihre Arbeit ausschließlich der Verunglimpfung des anderen, sowohl persönlich als auch philosophisch.
Ihr wichtigster Streitpunkt war die Frage, ob die physische Realität, die wir sehen, alles ist, was es gibt.
Athenodorus vertrat den Standpunkt, dass nur das Physische real sei – also nur das, was wir sehen und erleben. Wir können uns vielleicht unsichtbare Dinge wie die Götter oder das Schicksal oder ein Leben jenseits dieser Welt vorstellen, aber das ist nur ein Produkt unseres Kopfes, also ist die Vorstellungskraft auch ein Produkt des Physischen und kann unabhängig vom Kopf des Menschen nicht existieren.
Strabon war anderer Meinung und argumentierte, dass allein die Tatsache, dass wir uns Götter oder Geister oder eine Welt jenseits unserer eigenen vorstellen können, beweise, dass noch etwas Anderes existieren muss – denn wenn nur die physische Welt existierte, dann hätte unser Kopf, der physisch ist, keine Möglichkeit der Vorstellung von einer nicht-physischen Welt.
Der Kampf wogte Jahrzehnte. Sowohl Athenodorus als auch Strabon verfassten Traktate, Reden, Dialoge und großartige Bücher, in denen sie ihre Standpunkte darlegten und die Argumente des anderen in der Luft zerrissen.
Laut Athenodorus glich Strabon einem plappernden Schwein vor dem Metzger, das glaubt, das Messer in dessen Hand sei dazu da, das Abendessen des Schweines mundgerecht zu zerschneiden; Strabon nannte Athenodorus einen blökenden Esel, der am offenen Tor stehen bleibt und sich keine Welt der Freiheit da draußen vorstellen könne.
Eines Tages, als beide Männer schon in reiferem Alter waren, geschah etwas äußerst Seltsames. Athenodorus erhielt überraschend eine Nachricht von Strabons Familie, in der er informiert wurde, dass sein ehemaliger Mentor ihm eine Villa am Stadtrand geschenkt hatte.
Warum das denn? Athenodorus schwante, dass das nur irgendein böser Trick sein könnte. Er wollte das Geschenk ablehnen, doch das erschien ihm feige. Besser wäre es, die Herausforderung anzunehmen und Strabons hinterlistigen Plan, was auch immer dieser sei, zu seinem Vorteil zu wenden.
Außerdem hatte er derzeit keine eigene Unterkunft, und die Regenzeit war gekommen.
Also zog er in die Villa ein.
In der ersten Nacht in seinem neuen Haus, kurz nach Mitternacht, als ganz Athen schlief, wurde Athenodorus von einem schrecklichen, schrillen Schrei geweckt, wie aus tausend gequälten Kehlen, und ein Schaudern lief durch das ganze Gebäude und erschütterte die Wände.
Athenodorus standen die Haare zu Berge und seine Haut wurde eiskalt. Anfangs konnte er sich vor lauter Angst nicht von der Stelle rühren, doch als der Schrei verstummte, schüttelte er die Angst so gut er konnte ab. Er stürzte aus dem Bett und rannte in den Flur. In dem Moment hob der Schrei wieder an, diesmal noch näher und erschreckender als zuvor, und dann sah er es:
Vor ihm, im Flur, stand eine entsetzliche Erscheinung von etwas, das nur ein Mann sein konnte, aber kaum noch als solcher zu erkennen war. Er leuchtete bleich im Dunkeln, seine Tunika war zerrissen und zerlumpt und seine Haut von Würmern zerfressen.
Er näherte sich schlurfend und schwankend und so stark vornübergebeugt, als wären alle seine Knochen gebrochen. Als sich sein knöcherner Kiefer zum Schreien öffnete, spritzten Schmutz und Würmer heraus, und die Höhlen, in denen einst seine Augen lagen, waren voller Schlamm.
Athenodorus floh, durch den Flur, durch den Andron, durch das Vorzimmer und in die Nacht hinaus, die er halbnackt und zitternd in den Schatten der Kolonnaden der Agora verbrachte.
Jetzt verstand er Strabons vergiftetes Geschenk. Sein alter Rivale hatte sich irgendeinen fürchterlichen, realistisch wirkenden Trick ausgedacht, der Athenodorus überzeugen sollte, dass es doch eine Welt jenseits des Physischen gab, aus der ihn nun irgendeine arme Seele heimsuchte. Und es hatte funktioniert – Athenodorus hatte völlig die Fassung verloren. Strabon saß bestimmt irgendwo beim Wein mit Freunden und Bewunderern und lachte sich gerade tot.
Sollte er etwa wirklich recht behalten haben? Das wäre ja noch schöner.
Bis zum Morgengrauen hatte Athenodorus wieder etwas Mut gefasst und war nun entschlossen, Strabons fiesen Trick zu entlarven, koste es, was es wolle. Er verstopfte seine Ohren mit Lumpenstücken und kehrte in die Spukvilla zurück.
Tagsüber war alles still, aber um Mitternacht erhob sich der schreckliche Lärm erneut, wenn möglich noch schlimmer als zuvor, denn Athenodorus hatte den ganzen Tag in Besorgnis verbracht. Er hatte fest vor, der Erscheinung das Kostüm herunterzureißen, um darunter Strabon zu entblößen.
Und tatsächlich, als das Unwesen sich wieder zeigte, nahm er seinen ganzen Mut zusammen und stürzte sich darauf – doch anstatt die Erscheinung zu ergreifen, fiel er glatt hindurch und landete schmerzhaft auf dem Steinboden.
Nun hatte er mehr Angst als je zuvor und floh blindlings, diesmal aus einem Fenster, und hörte nicht auf zu rennen, bis er die Agora erreichte, wo er sich im Regen zitternd in eine dunkle Ecke kauerte.
Den Athenern erschien er immer seltsamer. Er verweigerte das Essen, redete mit sich selbst und lief durch die Straße, wobei er wild mit den Armen gestikulierte und ohne ersichtlichen Grund kreischte. Und trotzdem kehrte er jede Nacht in die Villa zurück.
Er war wild entschlossen, hinter Strabons Geheimnis zu kommen, und jede Nacht gelang ihm, das Gespenst ein wenig länger zu beobachten, bevor die Nerven mit ihm durchgingen und er wieder fliehen musste.
Als das Unwesen in der nächsten Nacht erneut erschien, floh Athenodorus nicht, sondern beobachtete es, wie es stundenlang durch die Villa wanderte, bis es sich kurz vor Sonnenaufgang in einen Raum am Ende des Flurs zurückzog und dort verschwand.
Im Licht des nächsten Tages untersuchte Athenodorus den Raum und fand dort eine Tür, die er zuvor noch nicht gesehen hatte, denn sie war kleiner als die anderen Türen und so in die Wand eingelassen, dass man sie leicht mit einem Teil eines Wandbords verwechseln konnte.
Sie war verschlossen, aber er stemmte sie auf. Dahinter führte eine Treppe nach unten in einen dunklen Keller.
Langsam, mit zitternden Händen eine Lampe umklammernd, stieg er die Treppe hinunter. Und erstarrte vor Erstaunen über das, was er dort sah:
Mitten im Keller stand eine merkwürdige, unerklärliche Vorrichtung.
Sie bestand aus einem Wirrwarr aus lauter Seilen, Flaschenzüge und Hebeln, die sich durch den halben Keller erstreckten, nicht unähnlich der Takelage eines Segelschiffs. Alles schien direkt oder indirekt mit einem großen, schweren Brett verbunden zu sein, das mitten im Raum auf dem Boden lag – fast wie eine Falltür, die nicht ganz zuging.
Das schwere Brett war rechteckig und mannsgroß und war auf einer Seite durch Scharniere am Boden befestigt.
Athenodorus stemmte die seltsame Falltür mit aller Kraft in die Höhe und ließ sie auf der anderen Seite auf den Boden knallen.
Darunter fand er nur einen Haufen loser Erde und Steine, der offenbar ein Loch im Boden ausfüllte.
Das Loch war ebenso rechteckig wie das Brett. Mit einem Schaudern dachte Athenodorus an das Gespenst und wusste, es konnte sich nur um ein Grab handeln.
Aber warum hatte das schwere Brett auf dem zugeschütteten Grab gelegen?
Lange musste Athenodorus die Seile und Flaschenzüge der seltsamen Vorrichtung untersuchen, bis er verstand, wie sie funktionierte:
Das Brett diente dazu, die Erde in das Loch zu kippen.
Strabon hatte wohl mitten im Kellerraum das Loch gegraben und die ausgehobene Erde direkt auf das Brett geschaufelt, das aufgeklappt neben dem Loch lag. Als das Grab fertig war und das Brett mit einem hohen Erdhaufen bedeckt, hatte Strabon an den Seilen gezogen, bis das Brett sich an den Scharnieren drehte, anhob und die Erde mit einem Mal wieder in das Loch rutschte, worauf das Brett darüber klappte.
Eine unsinnige Übung, wie Athenodorus feststellte – ein Grab mühsam ausgraben, dann mit Hilfe dieser Vorrichtung wieder zuzuschütten? Vielleicht war Strabon verrückt geworden.
Oder vielleicht lag etwas in dem Grab.
Eine Schaufel stand in der Ecke.
Athenodorus begann zu graben. Schaufel für Schaufel warf er die Erde auf das Brett. Er grub immer weiter, immer tiefer, bis er schließlich etwas freilegte, was ihm ein Schaudern durch die Knochen jagte: eine Leiche.
Sie war mehr Dreck als Mensch – von der schweren Erde zerdrückt und gebrochen und die Würmer waren schon fleißig am Werk. Das Gesicht war schmerzverzerrt, als wäre der Mann schreiend gestorben, sein offener Mund und seine Augenhöhlen waren mit Erde gefüllt.
Doch trotz des Drecks, trotz des Verfalls erkannte Athenodorus in den zerstörten Überresten des Gesichts seinen alten Freund und Rivalen Strabon.
Eine Ewigkeit lang saß er wie betäubt neben der Leiche. Er hatte nicht einmal gewusst, dass Strabon gestorben war – hat überhaupt jemand davon gewusst?
Und auf eine so grässliche Art!
Seine letzten Momente des Schreckens, als die Erde sekundenschnell von dem Brett rutschte und ihn erdrückte, mussten quälender gewesen sein, als Athenodorus es sich überhaupt vorstellen konnte.
Nicht einmal einem verhassten Menschen wie Strabon würde er einen so schrecklichen Tod wünschen.
Er wollte schon weinen – selbst in seinem Hass konnte er nicht anders, als um seinen ehemaligen Freund zu trauern, der auf so schreckliche Weise gestorben war.
Doch in dem Moment, als er die Tränen kommen spürte, bemerkte er etwas Seltsames:
In seiner rechten, mit Schmutz bedeckten Hand hielt Strabon ein Seil umklammert.
Das Seil führte nach oben, aus dem Grab heraus – er war mit den Flaschenzügen und der Takelage darüber verbunden.
Auch in der linken Hand hielt die Leiche etwas: eine kleine Schriftrolle.
Neugierig löste Athenodorus die Schriftrolle, rollte sie auf und las. Sie war von Strabons Hand geschrieben – und an ihn, Athenodorus, adressiert!
Der Brief bestand nur aus einem Satz:
Na, hast du deine Meinung schon geändert?
Erst jetzt begriff Athenodorus entsetzt, dass das, was wirklich passiert war, noch viel schlimmer war:
Niemand hatte Strabon in das Grab hineingelegt außer er selbst. Und er selbst war es, der das Auslöseseil gezogen hatte, bis das Brett nach unten kippte und den Philosophen unter einem schweren Haufen Erde und Steine lebendig begrub.
Aber das Schlimmste war: All das hatte er nur getan, nur um Athenodorus endgültig zu beweisen, dass er recht hatte – indem er als Spuk wiederkehrte und ihn heimsuchte.
Athenodorus‘ Mitleid für den lebendig Begrabenen wandelte sich schlagartig in Wut.
„Du glaubst, du hast gewonnen“, fluchte Athenodorus vor Zorn zitternd, „aber bewiesen hast du gar nichts. Niemand wird jemals erfahren, dass du Recht hattest.“
In dem Moment ertönte hinter ihm das erschreckende, aufwühlende Kreischen des Geistes – fast wie eine Antwort.
Athenodorus fuhr herum. Er hatte völlig die Zeit vergessen, draußen war längst die Sonne untergegangen.
Und dort, im Keller über neben dem Loch, stand die fürchterliche Erscheinung – und jetzt, endlich, als er ihn mit der Leiche verglich, erkannte Athendorus in dem verzerrten Gesicht die Züge des lebendig begrabenen Strabon.
Von Panik ergriffen versuchte Athenodorus, aus der Grube herauszuklettern, aber es war zu spät.
Mit einem unmenschlichen Schrei, der sich in noch schrecklicheres Gelächter zu verwandeln schien, zog Strabons Geist an dem Seil – und auf einmal hob sich das Brett und kippte den schweren Erdhaufen mit einem Rutsch wieder ins Loch – und krachend auf Athenodorus, als er verzweifelt versuchte, zu entkommen.
Seit diesem Tag hat niemand jemals die alte Villa vor Athen wieder betreten.
Noch heute ist sie unberührt – eine Ruine, überwuchert mit Weinreben, dornigen Brombeersträuchern und verdrehten, dunklen Bäumen, die selbst den mutigsten Entdecker abschrecken.
Die Geschichte von Athenodorus und Strabon erzählen die Athener noch heute, und immer noch hört man, wenn man nach Mitternacht an der alte Ruine vorbei spaziert, haarsträubende Schreie, wie aus zwei zerstörten, gespenstischen Kehlen.
Und wer es erträgt, länger als ein paar Augenblicke zuzuhören, wird bemerken, dass die Schreie nacheinander kommen, Schreie und Gegenschreie – als ob zwei Dämonen in einen ewigen, bösartigen Streit verwickelt wären, der niemals gelöst werden würde und niemals enden wird.
...und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute 🥶🤣